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Nachrichten von Drüben - Eine Ungarische Novelle

von A. Gazda. Übersetzung, Sahra G. Fötschl .

1992. Wenn ich mich richtig erinnere. Ich ging noch in die Grundschule in  Budapest und das erste McDonalds-Restaurant eröffnete. Wir Kinder waren bei der Eröffnung dabei. Ein Burger kostete 50 Ungarische Forint. Ich begann diese Verpackungen zu sammeln. Ich hatte eine kleine Glasvitrine in meinem Kinderzimmer, dort hortete ich alle diese Käseburger-Papiere und Pommes-Schachteln. Recycling oder Mülltrennung war kein Thema zu dieser Zeit. Die Welt veränderte sich so schnell, dass wir uns kaum mitverändern konnten.
Ein paar Jahre zuvor hatten wir zwei TV-Programme. Montags gab es überhaupt kein Programm. Niemand hätte daran gedacht, montags fernzusehen. Es gab auch Nachmittagssendungen, aber es war vielmehr üblich, nachmittags Musik zu machen. Beinahe jedes achtjährige Kind begann Klavier oder Geige zu spielen, ein Semester lang Musikunterricht kostete 50 Ungarische Forint, das konnte sich fast jede Familie leisten. 50 Ungarische Forint - der Preis von etwa 20 Schokocroissants.  1992. Einer unserer Freunde hatte die Wahnsinnsidee, die Nummer des Pizzadienstes herauszufinden und bestellte 10 ganze Pizzen. Wir wussten bis dahin nicht einmal, dass es dieses Essen gab! Wir wussten nicht, woher dieser Mann mit dem Roller kam - ein geheimnisvoller Ort. Ein paar Monate später fand unser Freund heraus, wo die Pizzen gemacht wurden und er zeigte uns diesen mysteriösen Ort, an dem wir den gesamten Prozess - durch eine Glasscheibe - beobachteten: wie geriebener Käse gestreut wurde auf diese Teigfladen, wir beobachteten die Vorbereitungen, unglaublich, dass nur und ausschließlich Pizza hier zubereitet wurde! Wir wussten, dass es Italien gab, dass Christoph Columbus Amerika entdeckt hatte, aber es wurde uns erzählt, dass Amerika unmöglich erreichbar und außerdem strengstens verboten, dass das Leben dort schlecht und für Menschen aus Ungarn, Rumänien, der Tschechoslowakei und den anderen sozialistischen Ländern überhaupt nicht geeignet ist.

Was nun sozialistisch genau bedeutet, wussten wir zwar auch nicht, aber wir wurden immerhin regelmäßig darüber unterrichtet - in der Schule, indirekt auch zuhause: es hatte irgendwas mit Revolution und siegen zu tun. Jedes Jahr: Der 4. April, Lektion: Zeichnet ein Bild der Revolution, den Sieg der sowjetischen Waffen, wie sie das Land befreien - auf die Barrikaden! - und dann, seitdem: Das Freie Ungarn! Freiheit! Ich hatte nie das Gefühl, dass irgendwo Barrikaden in unserem Bezirk wären, die uns Kinder oder andere Personen behindern würden - zumindest nicht in unserer Gegend, wo wir wohnten. Also zehn Minuten Richtung Norden oder zehn Minuten zu Fuß Richtung Süden - das war unsere Welt. Dass es gewisse Barrieren gab, bemerkten wir dann aber doch. Wir bekamen Pässe, weil wir vielleicht in die Tschechoslowakei reisen würden. Auf der ersten Seite dieses Passes stand, dass dieser nur in sozialistischen Ländern gültig sei - aber trotzdem: Es war ein Pass. Um aus Ungarn hinaus und richtig weit weg zu reisen, dazu war Ungarn für uns Kinder ohnehin zu groß. Eine Reise nach Bulgarien oder Tschechoslowakei hätte 12 Stunden gedauert - angeblich. Und das stimmte auch. Denn an jeder Landesgrenze standen wir mehrere Stunden und wurden durchsucht. Als Familie mit zwei kleinen Kindern hatten meine Eltern eigentlich keine Probleme. Zwar wurden wir gefragt, warum wir bei der Hinfahrt in die Tschechoslowakei mit zwei Schlafsäcken angereist waren und sich bei der Rückreise plötzlich vier Schlafsäcke im Auto befanden, aber bei einer Familie mit vier Mitgliedern konnte man dafür eine Erklärung finden. Irgendwie. Als jedoch mein Cousin einmal alleine mit zwei Schlafsäcken das Land verlassen wollte, war diese Frage nicht so einfach zu beantworten - ihm viel keine gute Antwort ein. Also wurde er gefragt, was er denn so für Bücher in seinem Auto hätte und in welchen Sprachen. Vermutlich musste es sich bei ihm um einen Revolutionär handeln, der mit Büchern bepackt auf Sommerlager fuhr und in Jugendlagern Bücher voller antisowjetischer Witze zum Besten gab. Und das stimmte sogar.  Es gab in diesen Sommerlagern Vorträge, Diskussionen und politische Bildung und tatsächlich sogar revolutionäre Lieder. Denn manchmal besangen wir abends am Lagerfeuer nicht den großartigen Kommunismus, sondern: "Ich will abhauen nach Spanien - und vielleicht sogar noch weiter..." - also standen wir oft ziemlich lange an der politischen Ländergrenze, bis alle Beamten unsere Bücher gelesen hatten. In all diesen Büchern gab es vielleicht eines unter fünfzig, das das Wort "Revolution" enthielt - trotzdem fühlten wir uns manchmal revolutionär.

Es läutet an der Tür. Etwas früh - denke ich. Onkel Johann ist da mit der Gartenschere: "Mädchen, die Bäume und Sträucher sind zu machen! Es ist Zeit für den Schnitt. All die Bäume und Sträucher, sie sind noch immer so klein, aber da hilft nichts - es ist Frühling!" Diese Worte machen meine Seele beben, sie sind wie Magie, wenn sie aus dem Mund meines Onkels kommen. All die vielen Jahre in diesem kleinen Dorf, manchmal möchte ich ausbrechen, aber jetzt trinke ich Kaffee mit dem Onkel und er will wie immer kein Geld annehmen für die Gartenarbeit, er sagt: Gartenarbeit ist wie Liebe, macht man mit reinem Herzen, damit macht man kein Geld. Dieser winzige Hof. Als wir ihn gekauft hatten, sagte ich meinem Mann, dass ich den Garten machen möchte und ich pflanzte viele kleine junge Sträucher und Bäume. Der Immergrün und die kleinen Obstbäume waren wie meine Kinder. Mittlerweile ist der Garten längst ein wuchernder Hof. Die wilden Weinranken überwuchern den Baldachin des Pavillons im Sommer und meine Erinnerungen hängen an den Obstbäumen. Jedes Jahr ein, zwei neue Äste. Und Onkel Johann macht sich an die verdrehten Äste der Trauerweide. Sie sieht genauso aus, wie jene am Hof meiner Kindheit, wo ich im Sommer mein liebstes Versteck hatte. Vom Frühling bis zum Spätherbst baute ich unter den Ästen im Schatten dort mein Lager. Im Sommer war es kühl im Schatten der Trauerweide, manchmal schlief ich dort ein. Als meine Großmutter dies einmal entdeckte, fing sie an zu schreien, sie rief nach allen guten Geistern, dem Teufel, Jesus, Gott und meiner Mutter - sie lief los um eine Decke, fluchend - "Himmel, Herrgott, Hölle! Du holst dir eine Krankheit!" - sie brachte eine Decke, die meine Mutter mit der Hand gewebt hatte. "Mädchen! Du musst warm bleiben! Wenn du hier spielst oder schläfst, leg eine Decke unter, du musst warm bleiben! Ohne Decke, ohne Teppich geht das hier nicht! So eine Dummheit, schäm dich!" Sie hatte es lieb gemeint, aber ich begann zu weinen vor Schreck. Sie schimpfte und rief nach meiner Mutter, die erschrocken angelaufen kam. Meine Mutter schlüpfte zu mir unter den Baum in mein Versteck unter den dichten Blattvorhängen und während mir noch Tränen aus den Augen hüpften, sagte sie: "Kleiner Marienkäfer, kannst du aufhören zu weinen? So ein Krawall. Sie beruhigt sich schon wieder. Ich rede mit ihr."  "Ich weine nicht", sagte ich, "ich schäm mich überhaupt nicht, ich will nur meine Ruhe!" Meine Mutter lächelte nur und sagte, was sie immer sagte: "Weinen schadet nicht, Mädchen. Weinen putzt die Augen. Vergiss nicht, Menschen weinen auch aus Freude. Das wichtigste im Leben ist, dass man sich nicht schämt für das, was man ist." Aber ich war nur wütend. Ich weinte aus Zorn, weil mein Wille nicht so stark war, wie jener der Erwachsenen und sie stets durchsetzten, was sie wollten.

Heute gehören der Hof meiner Großmutter und die Trauerweide zum Pfarrhaus. Aber es ist noch immer das eigentliche Zentrum des Dorfes. Ich bin mit dem Dorf und vor allem der Trauerweide meiner Großmutter so verwurzelt, wie mit den Sträuchern und Bäumen in meinem eigenen Garten. Aber unter der Trauerweide meiner Großmutter sagte mir meine Mutter die wichtigsten Dinge, die ich auch heute noch erinnere, wenn ich unter der Weide in meinem Garten liege: "Wenn du weinst, werde ich bei dir sein, aber nicht, weil weinen eine Schande ist. Dein Wille ist stark, aber Gottes Wille ist manchmal stärker. Aber vergiss niemals: Deine Eltern lieben dich, immer, denk daran, was du bist und was du kannst. So wird dein Wille stark." Manchmal träume ich diese Worte sogar, wenn ich im Schatten unter der Weide im Sommer einnicke.  Ich habe einmal eine Art Kunsttherapie gemacht. Wir sollten einen Baum zeichnen. Nein, nicht die Revolution und auch nicht den Sieg der Russen. Die Therapeutin hatte ein Buch mitgebracht: Zeichne einen Baum und ich sage dir, wer du bist. Ich zeichnete eine Trauerweide.  Dann im Gespräch, nach einigen Stunden zeichnen mit eingeklemmter Zunge, erklärte sie mir, dass es sich bei der Weide um den Baum der Einsamkeit, Stille, Harmonie, Ruhe, um das Gleichgewicht von Arbeit und Liebe handelt - das Symbol für Träume und Phantasie. Sie sagte zu mir: "Die Trauerweide ist eine wichtige Ermahnung im Leben dafür, dass man sich nicht schämt für das, was man ist."
Ich muss Onkel Johann etwas zu trinken bringen.
Der wild gewordene Ast der Weide ist stärker, als er dachte.
Himmel, Herrgott, Hölle! - der Alte bricht sich noch einmal den Hals.

(C) http://pixabay.com/de/trauerweide-kahl-baum-pflanze-385808/
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[Kolumne/Sahra Gabriele Foetschl/05.12.2014]





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